Wie lange kann ich mein Model im Seil lassen?

von | 21. Juli. 2025

Diese Frage begegnet mir regelmäßig in Workshops. Sie kommt fast immer von der Person, die fesselt. „Wie lange kann ich meine Beziehungsperson im Seil lassen?“ „Was ist, wenn ich nicht merke, dass etwas nicht passt?“ „Was, wenn meine Person im Seil verletzt wird?“

Diese Fragen zeigen, wie tief das Bedürfnis nach Sicherheit verankert ist und gleichzeitig, wie groß die Unsicherheit vieler fesselnder Personen im Umgang mit Verantwortung und Vertrauen zu Beginn derer Fesselreise ist.

Bevor ich tiefer einsteige, ist mir eins ganz wichtig: Ich gehe in diesem Artikel davon aus, dass vor jeder Fesselsession ganz klar und verbindlich besprochen wurde, wer welche Verantwortung trägt. Dass eine Vereinbarung darüber getroffen wurde, wie kommuniziert wird, wenn etwas nicht passt, bei beiden Seiten. Das ist nicht optional. Das ist aus meiner Sicht die Basis.

Meiner Perspektive: Ich bin der Meinung, beide Beteiligten, Model und fesselnde Person tragen gleich viel Verantwortung für das, was im Seil geschieht. Verantwortung heißt hier nicht Kontrolle, sondern Klarheit. Es geht darum, sich gegenseitig ernst zu nehmen. Den Rahmen gemeinsam zu gestalten und genau auf dieser Grundlage baut dieser Blogartikel auf.

Warum machen wir uns Sorgen?

Sich Sorgen zu machen ist etwas zutiefst Menschliches. Es ist ein Ausdruck von Fürsorge, von Verbindung, von Liebe. Sorgen zeigen, dass Dir das Wohlergehen der anderen Person nicht egal ist. Dass Du aufmerksam bist, dass Du schützen willst. All das sind wertvolle Eigenschaften.

Gleichzeitig kann es passieren, dass wir in unserer Sorge den Kontakt zu dem verlieren, was im Moment wirklich da ist. Sorgen beziehen sich oft auf etwas, das passieren könnte, weil wir es ggf. in der Vergangenheit oder durch Erfahrungsberichte schon erlebt haben. Sorgen beziehen sich nicht auf das, was gerade ist.

Wenn wir uns in Sorgen verlieren, handeln wir manchmal aus Impulsen bzw. Mustern heraus, die mehr mit unserer eigenen Unsicherheit zu tun haben als mit der Realität im Jetzt. Genau hier beginnt meine Einladung zum Perspektivwechsel.

Was passiert, wenn Du eingreifst?

Stell Dir vor: Deine Beziehungsperson ist gefesselt. Die Seile sitzt perfekt. Druck ist da. Halt ist da. Die Fesselung gibt einen klaren Rahmen. Durch diesen Rahmen wird etwas für die Person im Seil möglich: Loslassen. Runterfahren. Ankommen. Das Nervensystem kann sich endlich entspannen (regulieren).

Der Atem wird ruhig. Der Körper darf einfach sein. Vielleicht hört die Person im Seil gerade ihren Herzschlag oder spürt das Seil ganz bewusst an einer Körperstelle. Vielleicht ist sie das erste Mal seit langer Zeit wirklich bei sich. Endlich. Und plötzlich fragst Du: „Ist alles in Ordnung?“

In genau diesem Moment wird etwas unterbrochen, vielleicht hast Du das auch gerade beim Lesen wahrgenommen?! Die Erfahrung, der innere Raum, dieser besondere Moment und das Spüren. Alles wird durchbrochen. Die Aufmerksamkeit geht vom Innen ins Außen. Vom Körper in den Kopf. Vom Erleben zur Reaktion.

Die Frage „Ist alles in Ordnung?“ wird nicht nur gehört, sie wird auch sofort von der Person im Seil analysiert.

Weil wir alle gelernt haben, dass Hören wichtiger ist als Fühlen. Also priorisiert das Nervensystem genau diese Reize. Die gesamte innere Erfahrung tritt in den Hintergrund. Im Vordergrund steht: Deine Frage. Deine Sorge und auch Deine Unsicherheit.

Die Person im Seil fängt an, sich zu fragen: Warum fragt meine fesselnde Person das? Sieht mein Körper oder mein Gesicht komisch aus? Mache ich etwas falsch? Passt etwas nicht? Muss ich jetzt antworten?

Genau das ist der Moment, in dem das Erleben und Fühlen aus dem Körper in den Kopf gezogen wird, nicht freiwillig. Sondern durch die Unterbrechung einer kleinen Frage.

Fesseln lernen Julia Seifried

Warum wir Stille oft nicht aushalten

Die meisten Menschen kennen den Zustand echter Ruhe nicht. Ruhe, in der keine Mimik da ist. Keine Bewegung. Nur Atmung. Stille. Ein Nervensystem, das nicht unter Dauerfeuer steht. Ein Körper, der einfach sein darf. Genau das macht etwas mit Dir, wenn Du fesselst.

Diese Ruhe ist ungewohnt. Nicht gelernt oder kontrollierbar und vor allem, sie verunsichert. Denn wir sind daran gewöhnt, dass Menschen uns Feedback geben. Ein Lächeln, ein Nicken, ein „Ja, alles gut“. Wenn all das ausbleibt, greifen wir zu dem, was wir kennen.

Kontrollieren, fragen, berühren, Sicherheit herstellen. Für uns, nicht für die Person im Seil. Genau das ist der entscheidende Punkt. Die Frage „Ist alles in Ordnung?“ ist für Dich. Nicht für Dein Gegenüber. Sie beruhigt Dich und Dein Nervensystem und gleichzeitig stört sie das System der Person im Seil.

Was oft übersehen wird: Diese Stille im Seil kann ein Zeichen für Vertrauen, für Entspannung, für ein Ankommen. Aber weil wir es nicht kennen, interpretieren wir sie als Gefahr, oder als Anzeichen für Probleme. Dabei wäre gerade jetzt Zurückhaltung gefragt. Präsenz und die Fähigkeit, Raum zu halten, ohne ihn zu füllen bzw. besetzen.

Wessen Verantwortung ist das eigentlich?

Ich empfehle Euch, vor der Session zu vereinbaren, dass die Person im Seil etwas sagt oder Zeichen gibt, wenn etwas nicht passt. Denn dann darfst Du ihr auch zutrauen, dass sie das tut. Kommunikation ist Teil der Vereinbarung, Verantwortung auch. Die gefesselte Person ist für ihren Körper und Grenzen zuständig.

Du bist für den Raum zuständig. Diese klare Aufteilung gibt beiden Seiten Handlungssicherheit und Selbstverantwortung. Genau das braucht es in einer Session: Klarheit. Wenn das vorher gemeinsam besprochen wurde, braucht es kein ständiges Nachfragen, kein Überprüfen und kein ungebetenes Eingreifen.

Entfessle, was euch verbindet. Sicher, sinnlich, unvergesslich.

Mit den Fesseldialogen öffnest Du eine Tür zu klarer Kommunikation und tiefer Verbundenheit.
 
Mit 30+ Fragen an die Person, die gefesselt wird und 30+ Fragen an die Person, die fesselt, kommst Du dazu Deine Wünsche und Grenzen zu klären, so dass Ihr Euch in jeder Session wirklich begegnet, authentisch und auf Augenhöhe.

Fesseldialoge

Natürlich: Wenn etwas sichtbar nicht stimmt, wenn Du eindeutige Signale wahrnimmst, wenn das Seil verrutscht, reagierst Du. Aber das hat nichts mit dauerhafter Kontrolle aka. Nachfragen zu tun. Sondern mit Präsenz und mit Vertrauen.

Vertrauen heißt nicht: Ich lasse alles laufen. Vertrauen heißt: Ich nehme das, was wir besprochen haben, ernst. Ich respektiere Dich, Deine Grenzen und den Raum, den Du brauchst. Ich vertraue darauf, dass Du Dich meldest, wenn etwas nicht passt und halte mich zurück, auch wenn mein innerer Impuls und Instinkt etwas anderes sagt.

Wenn Du ständig nachfrägst, gibst Du Deine Unsicherheit an die Person im Seil weiter. Das verändert die komplette Fesselerfahrung. Nicht nur die Stimmung, sondern die gesamte Dynamik. Statt ein sicherer Raum zu sein, wird die Session zur Prüfung. Statt Verbundenheit entsteht Anspannung. Nicht durch das Seil, sondern durch Misstrauen.

Was Du wirklich tust, wenn Du unterbrichst

Mit jedem Griff, mit jeder Frage, mit jedem Blick nimmst Du Raum. Du ziehst die Aufmerksamkeit auf Dich und bringst Unruhe in die Session. Du machst aus einer körperlichen Erfahrung eine soziale Situation. Eine, die bewertet wird und eine Reaktion erwartet.

Genau das ist nicht das, was Du eigentlich wolltest. Du wolltest Sicherheit geben. Was Du gibst, ist Unsicherheit. Du wolltest Fürsorge zeigen. Was ankommt, ist Kontrolle. Du wolltest Verbindung. Was entsteht, ist Trennung. All das passiert, weil Du es nicht aushältst, dass jemand ruhig ist. Dass die Person im Seil sich wahrscheinlich entspannt, in sich versinkt und sich ggf hält, ohne optische Rückmeldung.

Was Du stattdessen lernen darfst, ist: Halten. Nicht durch Fragen, nicht durch Eingreifen, sondern durch Präsenz. Durch Deine Fähigkeit, mit der Stille zu sein. Es ist ein Training, keine Frage, wie ein innerer Muskel, der wachsen darf.

Halten bedeutet:

  • Ich bleibe da.
  • Ich bin aufmerksam.
  • Ich bin bereit, aber ich greife nicht ein.
  • Ich ertrage mein eigenes Nichtwissen, meine Ungeduld, meine Unsicherheit.
  • Ich respektiere die Erfahrung meiner Person im Seil.
  • Ich mute meinem Model etwas zu, nämlich Selbstverantwortung
  • Ich mute mir etwas zu, nämlich Vertrauen.

Coming Home Julia Seifried

Was stattdessen möglich wäre

Du erinnerst Dich an das, was ihr vor der Session zusammen besprochen habt. Du erlaubst Dir mit der Stille zu sein. Mit dem Ausdruck Deines Models was nicht performt, sondern authentisch ist. Du traust Deinem Model zu, dass sie sich meldet.

Da ich aus eigener Erfahrung sehr gut weiß, wie schwierig dies am Anfang ist, gegen seine Impulse, Instinkte und Muster zu handeln, habe ich Dir hier ein paar Tipps, welche Dich in einer Session unterstützen können.

Meine Tipps, wenn sich Sorgen zeigen

Wenn Du während der Session merkst, dass Du unruhig wirst, Dich fragst, ob alles okay ist oder das Bedürfnis hast, zu überprüfen, dann erinnere Dich daran: Es ist okay, dass diese Impulse auftauchen.

Die Frage ist nicht, ob Du etwas fühlst, sondern wie Du damit umgehst. Hier ein paar unterstützende Gedanken und Fragen, die Dich in der Präsenz halten, ohne die Erfahrung Deiner Beziehungsperson zu unterbrechen:

  • Kann ich einfach beobachten, ohne gleich zu handeln?
  • Vertraue ich meiner Beziehungsperson, dass sie sich meldet, wenn etwas nicht passt?
  • Was macht es mit mir, wenn ich keine Rückmeldung bekomme, was genau triggert mich daran?
  • Ist das gerade wirklich mein Gefühl, oder reagiere ich auf eine alte Erfahrung oder Erwartung?
  • Wie fühlt sich mein eigener Körper gerade an? Bin ich präsent oder angespannt?
  • Was brauche ich in diesem Moment, um mich sicher zu fühlen und kann ich mir das selbst geben?

Diese Fragen sind keine To-do-Liste. Sie sind Einladung zur Selbstregulation. Du brauchst keine Antworten im Außen. Du darfst im Kontakt mit Dir bleiben und genau dadurch hältst Du den Raum klar, präsent, offen. Nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen. In Dich und in die Verbindung zwischen euch beiden.

Wenn Du merkst, dass sich in Dir die Frage „Ist alles in Ordnung?“ zeigt, darfst Du kurz innehalten. Stattdessen könntest Du Fragen stellen, die das Nervensystem Deiner Fesselperson unterstützen und die Erfahrung noch vertiefen. Hier ein paar Ideen:

  • Wo in Deinem Körper spürst Du das Seil gerade am deutlichsten?
  • Gibt es eine Körperstelle, die besonders präsent gerade für Dich?
  • Was macht das Seil gerade mit Deinen Emotionen/ Gefühlen?
  • Spürst Du eher Weite oder Enge in Deinem Körper?
  • Was für eine Qualität hat der Kontakt zur Unterlage?

Diese Fragen lenken den Fokus in den Körper Deines Models, fördern die Selbstwahrnehmung und Eigenverantwortung. Ohne Druck, ohne Kontrolle. Sie laden ein, sich selbst zu spüren und bei sich zu bleiben, statt zu reagieren.

Fazit: Sorgen machen ist menschlich, aber keine Lösung

Sich Sorgen zu machen, ist menschlich und verständlich. Es zeigt Verbindung. Es zeigt Verantwortungsbewusstsein. Aber wenn Du mit Deiner Sorge in die Session eingreifst, entziehst Du Deiner Fesselperson den Raum. Du verschiebst den Fokus, Du machst die Erfahrung des Models zu Deiner und das ganze total unbewusst und bestimmt unbeabsichtigt.

Du verlagerst Verantwortung, Du ziehst Aufmerksamkeit auf Dich und Du bringst Misstrauen, selbst dann, wenn Du es gut meinst. Das Problem ist nicht Deine Fürsorge, sondern die Form, in der Du sie ausdrückst.

Deshalb: Wenn Ihr vorher Konsens besprochen und getroffen habt, wenn ihr über das „Wie“ Kommunikation in der Session funktioniert, dann vertraue genau darauf. Dein Model meldet sich, wenn etwas ist. Du bist da. Wach. Präsent.

Du hältst den Raum. Nicht mit Fragen, nicht mit zwanghafter Fürsorge, sondern mit Deiner Präsenz und Vertrauen. Mit Deiner Fähigkeit, da zu sein, ohne zu unterbrechen. Das ist die eigentliche Aufgabe einer fesselnden Person (Rigger) beim Fesseln. Nicht Technik, nicht Perfektion sondern: Lassen können, geduldig sein und beobachten, mit allen Sinnen.

2 Kommentare

  1. Stefan

    Danke Julia für den tollen Artikel.
    Du hast so gut beschrieben was abgeht und auch ganz pragmatisch, wie man das am Besten in den Griff bekommen kann.

    Antworten
    • Julia

      Danke Stefan!
      Ja es geht ganz einfach und gar nicht so kompliziert tatsächlich, man darf es nur wissen *lach*

      Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert