Der perfekte Rigger – Die zerstörerische Illusion

von | 17. Apr.. 2025

In der Shibari-Szene sprechen wir oft über das „perfekte Ropemodel“ – ein Bild, das viele Menschen unter Druck setzt, das selten jemand erfüllen kann und das in Wahrheit mehr schadet als hilft. Doch über das Gegenstück wird selten gesprochen: die zerstörerische Illusion des perfekten Riggers.

Denn auch hier gibt es ein Bild, das sich tief eingebrannt hat: Der „perfekte Rigger“ ist technisch brillant, hat unzählige Workshops besucht, hat bei den „richtigen“ Schulen gelernt, kennt die fancy Namen aller Fesselungen und kann die krassesten Suspensions aus dem Ärmel schütteln.

Er hat in der Szene einen großen Namen, war auf Bühnen, hat diverse Models gefesselt – je mehr, desto besser. Er ist gefragt, bekannt, sichtbar – und genau das wird als Kompetenz verstanden. Doch wenn wir ehrlich sind, ist dieses Bild genauso einseitig, gefährlich und zerstörerisch wie das vom perfekten Model.

Und – auch das gehört zur Illusion dazu – der perfekte Rigger ist männlich. Die Szene reproduziert oft unbewusst das Bild vom charismatischen, technisch überlegenen Mann, der fesselt – während das Model weiblich, schön und hingebungsvoll ist. Dazu kommt die Vorstellung, dass ein „echter“ Rigger dominante und sadistische Züge haben sollte.

Sanfte, empathische Männer? Kaum sichtbar. Menschen jenseits der Norm? Rutschen schnell aus dem Blickfeld. Diese klassische Geschlechterrolle wird selten hinterfragt, ist aber tief verankert – und schließt viele Menschen und Möglichkeiten aus. Doch wenn wir ehrlich sind, ist dieses Bild genauso einseitig, gefährlich und zerstörerisch wie das vom perfekten Model.

Was im Fokus steht – und was dabei verloren geht

Rigger, also die Person die fesselt, werden oft ausschließlich nach technischen Fähigkeiten bewertet. Es zählt, wie viel sie können, nicht wer sie sind. Dabei wird eines komplett ausgeblendet: Darf dieser Mensch mich überhaupt anfassen?

Ich vergleiche das gern mit einer Massage. Tausche „Shibari“ gegen „Massage“ und stell Dir vor: Würdest Du Dich von dieser Person massieren lassen? Wenn die Antwort Nein ist – warum solltest Du dann in einem intimen, körpernahen Setting wie Shibari mit dieser Person arbeiten?

Doch genau das passiert viel zu oft. Es wird nicht hinterfragt, wer der Mensch hinter den Seilen ist.

  • Wie geht er mit seinem Gegenüber um?
  • Wie bewusst ist er sich über Konsens, Körpergrenzen und emotionale Prozesse?
  • Wie reagiert er auf Unsicherheiten, auf Nervosität, auf Trigger?
  • Kann er Raum halten – oder füllt er nur sich selbst?

Diese Fragen verblassen häufig hinter dem äußeren Schein von Bekanntheit, Technik und Show.

Mehr Fragen kannst Du in den Fesseldialoge finden ⬇️

Fesseldialoge

Wenn Reputation wichtiger ist als Integrität

Ich habe erlebt, dass Rigger trotz sichtbarer Grenzüberschreitungen und bekanntem Alkoholkonsum auf der Bühne gefeiert wurden. Dass Models (Personen die gefesselt werden) übergriffiges Verhalten stillschweigend hinnehmen – weil der Name eben „groß“ ist. Dass man Konsensverletzungen ignoriert, so lange die Fesselung gut aussieht und das Publikum applaudiert.

Und das ist gefährlich. Denn was verloren geht, ist der Mensch im Seil. Es geht nicht mehr um Verbindung, nicht mehr um Achtsamkeit – es geht nur noch um Leistung, Szene-Ranking und Ego.

Was wirklich zählt

Aus meiner Sicht ist ein guter Rigger nicht derjenige, der spektakulär fesselt – sondern der, der mit dir in Verbindung geht. Der zuhört. Der nachfragt. Der nicht sein Repertoire abspult, sondern Dich wahrnimmt. Der reflektiert. Der in der Lage ist, sich selbst zu hinterfragen. Der Verantwortung übernimmt – für sich, für Dich, für den Raum.

Ein guter Rigger schafft einen Raum, in dem Du Dich wirklich fallen lassen kannst, nicht weil er alles technisch perfekt macht, sondern weil Du Dich sicher, gesehen und respektiert fühlst. Weil Dein Körper nicht Objekt seiner Kunst ist, sondern Subjekt der Begegnung.

Und genau das ist einer der Gründe, warum ich mich nicht ausschließlich in Shibari weiterbilde, sondern bewusst auch in anderen Bereichen.

Neben Technik interessieren mich Themen wie Raumhalten, Somatic Experiencing, Nervensystemregulation, traumainformiertes Arbeiten, achtsame Kommunikation, Coaching,, körperorientierte Prozessbegleitung und Bewusstseinsarbeit. All das fließt in mein Fesseln und meine Arbeit mit Menschen ein – weil ich glaube, dass es nicht nur um Technik geht, sondern um das, was im Kontakt passiert.

Ich bilde mich weiter, weil ich weiß: Der Seilkontakt ist intensiv. Er kann berühren, öffnen, aktivieren. Und ich will vorbereitet sein – nicht nur mit meinen Händen, sondern mit meinem ganzen Wesen.

Fazit: Weg mit der Fassade

Die Idee vom perfekten Rigger ist eine Illusion – und eine gefährliche noch dazu. Sie schafft Druck, blendet aus, was wirklich zählt, und führt dazu, dass Menschen sich in Situationen wiederfinden, die sich nicht gut anfühlen, aber äußerlich glänzen.

Es ist Zeit, dass wir beginnen, andere Fragen zu stellen:

  • Wie präsent ist der Mensch mir gegenüber?
  • Wie geht er mit Verantwortung um?
  • Wie sieht sein Verständnis von Konsens aus – wirklich?

Denn Shibari ist keine Bühne für Egos – sondern ein Raum für echte Verbindung. Und dieser Raum verdient Menschen, die ihn mit Bewusstsein, Empathie und Haltung gestalten.

Gleichzeitig ist es aus meiner Perspektive nicht nur in der Verantwortung des Riggers, wie er oder sie sich verhält, sondern auch beim Model selbst. Das Model trägt Selbstverantwortung – denn niemand wird unfreiwillig gefesselt. Das Model entscheidet, wem es sich anvertraut. Wer mich fesseln darf, ist meine Entscheidung.

Wenn ein Model die richtigen Fragen stellt, kann es sehr schnell herausfinden, mit wem es sich sicher fühlt – und mit wem nicht. Der gesunde Menschenverstand reicht oft aus, um zu erkennen, ob ein Mensch empathisch, präsent und verantwortungsbewusst ist.

Natürlich spielen hier unsere inneren Muster mit – besonders das starke Bedürfnis nach Anerkennung, nach Gesehenwerden. Viele Models nehmen es in Kauf, sich nicht wirklich mit der Person vor ihnen auseinanderzusetzen, solange sie das Gefühl haben: „Ich werde endlich gesehen.“ Diese emotionale Sehnsucht macht es schwer, klar zu erkennen, ob der Mensch vor einem wirklich präsent ist – oder nur performt.

Und natürlich trägt auch der Rigger Verantwortung:

  • Fragt er nach?
  • Hört er zu?
  • Interessiert er sich für das, was im Inneren passiert?
  • Ist er bereit, Raum zu halten, auch über die Session hinaus?

Oft wird der Rigger verteufelt, weil er in der sichtbareren Rolle ist – doch die Illusion, dass er allein die Verantwortung trägt, ist genau das: eine Illusion. Shibari ist keine Einbahnstraße. Es ist ein Miteinander. Verantwortung ist geteilt – 50:50. Nur ist sie zeitlich versetzt spürbar: Der Rigger führt, das Model empfängt – aber beide sind gleich beteiligt.

Die Rigger, die sich wirklich kümmern, sind oft nicht die lautesten. Sie stehen nicht ständig im Rampenlicht, posten nicht ständig auf Social Media. Sie sind leise, empathisch, präsent. Sie führen Menschen, keine Körper. Sie halten Raum – nicht ihr Ego.

Und genau diese Menschen bleiben oft unter dem Radar. Weil im Außen wenig passiert. Weil das, was sie tun, tief im Inneren wirkt. Und genau das macht es für viele schwer greifbar – und gleichzeitig so wertvoll.

Denn ein Rigger, der weiß, was beim Fesseln emotional, körperlich und mental passiert, lässt sein Model nicht nach der Session allein. Aftercare beginnt nicht erst nach dem letzten Knoten – sie zieht sich durch die ganze Verbindung. Es geht darum, gemeinsam zu spüren, zu halten, zu begleiten. Zu sagen: „Ich bin hier. Du bist sicher. Zeig dich – nicht nur mit deinem Körper, sondern auch mit deinen Gefühlen.“

Verantwortung ist keine Einbahnstraße. Sie ist ein gemeinsames Tragen. Und nur wenn beide Seiten diese Rolle annehmen, entsteht echter Raum für Tiefe, Verbindung und Vertrauen.

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