Ich wusste bereits sehr früh, dass ich nicht nur auf Männer stehe. Ich wusste auch, dass ich als damalige Katholikin (bin seit 2021 aus der katholischen Kirche ausgetreten) deswegen für immer eine Sünderin sein werde und nicht in den Himmel, sondern in die Hölle komme. Ich wusste auch, dass dies nicht nur eine Phase oder ein Orientierungsding ist. Doch was ich nicht wusste, wie ich mich dann bezeichnen soll und vor allem ob.
Damals war es mir aber auch egal. Es war einfach so, ich war einfach so. Ich hatte damals keine Schublade (Label) gefunden, welche zu mir passt, welche sich für mich richtig anfühlt. Das war vor 20 Jahren. Heute leben wir gefühlt in einer anderen Welt. Heute bezeichne ich mich selbst als bisexuell und queer. Doch ist das richtig? Selbst das fühlt sich für mich nicht richtig an, da ich immer wieder am Zweifeln bin, was die Begriffe für mich bzw. für Andere bedeuten.
In diesem Blogartikel möchte ich dieser Frage auf den Grund gehen und bestenfalls Klarheit für mich finden. In diesem Artikel gibt es keine Garantie auf Vollständigkeit. Es ist kein Fachartikel, sondern ein Artikel, welcher aus meiner subjektiven Betrachtung entstanden ist.
Labels und gleichzeitig keine Klarheit
Queer ist heutzutage in aller Munde. Selbst ich benutze den Begriff für mich. Doch was bedeutet er? Die Schublade „queer“ wird von den Medien oder Politik hauptsächlich genutzt, um Quoten zu erfüllen, weil es gerade Hip ist. In Social Media sieht man die unterschiedlichsten Menschen, welche sich als queer labeln.
Bei Datingshows wird immer wieder zwischen queer-sein, schwul, lesbisch und bisexuell unterschieden. Selbst die LGBTQ+ Organisationen sind sich über die Definition nicht einig. Auf der einen Seite soll Q (queer) = alle einen, welche das Heteronormativität infrage Stellen, auf der anderen Seite wird es bei LGBTQ+ separat erwähnt. Ich bin verwirrt.
Ich habe hier ein paar Definitionen gefunden, welche ich gerne erwähnen möchte:
- Google Übersetzer: queer = seltsam (englisch/deutsch)
- Staat Deutschland Regenbogenportal: „In Deutschland wird „queer“ oft als Sammelbezeichnung für lesbis, schwul, bisexuell, trans*, inter* und mehr, aber auch als eigenständige Selbstbezeichnung verwendet, die die begrenzende Kategorie „homo-/heterosexuell, „mannlich/weiblich“, cis-/transgeschlechtlich infrage stellt. Im akademischen Kontext wurde „queer“ in den 1990er-Jahren aufgegriffen, um gesellschaftliche Normangen zu Geschlcht und Begehren zu untersuchen.“
- Echte Vielfalt: „… als mögliches Element von Queer sein, bezieht sich wiederum auf die eigene Geschlechtsidentität und hat erstmal nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun, sondern besagt, dass sich eine Person nicht oder nur zum Teil zu dem Geschlecht zugehörig fühlt, welches ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Trans*, inter*, agender und nicht-binäre Personen bezeichnen sich daher oft auch als queer …“
- LSVD: „… Queer kann sich auch auf eine Haltung beziehen, die Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität infrage stellt…“
- Evangelische Kirche: „…Lebenskonzept „Queer ist eine Haltung, eine Brille, eine Methode, eine Lebensweise. Queer als eine subversive Aktion stellt sich also gegen Geschlechter-, Begehrens- und Körpernormierungen, beispielsweise kann auch Fat Activism (Aktivismus dicker Menschen) als queeres Anliegen gesehen werden..“
- Deutsches Jugendinstititut: „… wird heute oft verwendet, um insgesamt von nicht-heterosexuellen und nicht-cisgeschlechtlichen Menschen zu sprechen. Die ursprünglich abwertende Bedeutung des Wortes im Sinne von abweichend, abartig oder schräg wurde seit den 1990er-Jahren in eine selbstbewusste, stärkende Selbstbeschreibung umgedeutet…“
- Queer Lexikon: „…Auch für Menschen, die sich (noch) nicht komplett sicher sind, was ihr Geschlecht oder ihre Orientierung ist, ist ‘queer’ eine nützliche Beschreibung…“
- Podcast Busenfreundin: „…queer sein ist eine Haltung… sagt nicht direkt etwas über Sexualität aus…“
Bei meiner Recherche und das Befragen von Menschen und KI durfte ich feststellen, dass das Thema viel komplexer ist, wie ich es mir im ersten Moment ausgemalt hatte.
Warum Labels (Rollenbilder)
Anhand der Quellen merke ich, dass queer sein, sehr viel heißen kann und gleichzeitig auch „ich weiß noch nicht“. Da frage ich mich dann wieder, warum will man sich labeln bzw. in eine Schublade stecken, wenn es für diese keine klare Definition bzw. Klarheit gibt.
Woher kommt unser Bedürfnis, uns in Schubladen/Labels zu stecken? Warum ist dies in unserer Gesellschaft so wichtig? Ich verstehe das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, das Gefühl sich zugehörig zu fühlen und gleichzeitig sich abgrenzen zu wollen.
Gerade aus der Zeit heraus, in denen es nach Gesetz verboten war, schwul/lebsbisch zu sein. Erst seit 1994 wird Homosexualität nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Vor 1994 war es daher wichtig, ja gar überlebenswichtig, Gleichgesinnte zu wissen.
Das Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln wir bereits nach der Geburt, denn auch hier ist es so, wenn wir nicht zu unserem Stamm/ Gruppe/ Familie/ Gesellschaft dazugehören, überleben wir nicht. Dieses Grundbedürfnis bleibt uns bis zum Tode. Entweder wir sind uns dessen bewusst oder unbewusst.
„Das Bedürfnis, geliebt zu werden, ist verbreiteter,
als das Bedürfnis, zu lieben.“
Otto Weiß (1849 – 1915), Wiener Musiker und Feuilletonist
Gleichzeitig ist es wichtig, sich abzugrenzen. Durch eine Abgrenzung verschmelzen wir nicht mit der Gruppe/ Stamm/ Familie/ Gesellschaft, sondern werden ein Individuum. Eine Abgrenzung erfolgt aus meiner Sicht am einfachsten durch Labels. Durch Labels kann das Individuum mitteilen, wohin es gehört. Sich von der Gesellschaft abgrenzen und gleichzeitig zu einer Gruppe dazugehören.
Es gibt definitiv noch mehr Gründe, Labels zu verwenden, ein Grund davon möchte ich noch erwähnen.
Sichtbarkeit
Ich möchte nicht zu politisch werden, denn aus meiner Sicht sollte sich Politik aus vielen Dingen heraushalten. Auch aus dem ganzen Thema Liebe, Partnerschaft- und Lebenskonzept.
Sichtbarkeit ist ein zentraler Grund für Labels, dies bestätigten mir mehrere Menschen, welche sich selbst als gay (schwul/lesbisch) oder bi bezeichnen. „Es soll nicht mehr seltsam sein, gay zu sein, es soll einfach normal sein“. Doch ohne Sichtbarkeit ist es nicht präsent und somit weiß auch niemand davon. Wenn niemand davon weiß, gibt es dies auch nicht. Erst, wenn es gesehen wird, wird es real.
Die Suche nach dem richtigen Label
Die Suche nach dem richtigen Label für mich oder einem Leben ohne Label ist also wirklich nicht einfach. Für mich ist es ein Dschungel an Labels, bei dem ich nicht wirklich durchblicke. Ich bin verwirrt und wirklich aufgeschmissen. Immer wieder stelle ich mir die Frage, will und muss ich mich wirklich labeln und wenn ja, für wen? Für die o. g. Sichtbarkeit oder für die Zugehörigkeit? Also für andere, oder ist es für mich?
Diese Verwirrung zehrt an meinem Geduldsfaden. Aus diesem Grund habe ich in Instagram Influencer gesucht, welche mit dem Thema Lable, LGBTQ+ und Diversity aufklären bzw. sichtbar sind. Ich habe mehrere gefunden und direkt angeschrieben, leider kam bis heute keine Antwort.
Mein nächster Schritt, mein enges Umfeld nach deren Meinung und Erfahrung bzgl. Labels zu befragen. Aus diesem Austausch sind wunderbare Gespräche entstanden. Einige waren damit einverstanden, die Gespräche aufzuzeichnen und in meinem Podcast zu veröffentlichen. Eine Übersicht dieser Folgen werde ich hier teilen.
Fazit: Wir sind einfach Mensch!
Aus meiner Sicht wäre die einfachste und beste Lösung, das Schubladendenken (Labeln) komplett abzuschaffen. Wir sind alle Menschen. Alle super individuell und doch Mensch. Doch mit Schubladen bzw. Labels wollen wir uns auf der einen Seite von der Masse abheben und unsere Einzigartigkeit darstellen. Wollen vielleicht sogar besser sein, spezieller sein als die Masse. Auf der anderen Seite wollen wir gleichzeitig mit Labels unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe/ Community sichtbar machen.
Die große Problematik daran ist, dass durch zu viele Labels, welche vorallem nicht klar definiert sind, zu viel Verwirrung und dadurch Ablehnung entsteht. Dies endet dann aus meiner Sicht wieder in Mobbing, Ausgrenzung und Gewalt.
Ich habe für mich verstanden, dass durch Labels mehr Gespräche geführt werden müssen, mehr Missverständnisse entstehen können und sich Menschen ggf. mehr Gedanken machen, als dass sie sollten. Anstatt eine gemeinsame Zeit zu genießen, gibt es Gedanken darüber, ob die gemeinsame Zeit missverstanden werden könnte.
Warum können wir uns alle nicht einfach wie Menschen sehen, ohne Label, einfach Mensch? Wenn dann näheres Interesse an einem Mensch besteht, erfährt man in der Regel sehr schnell, ob das Interesse auf Gegenseitigkeit beruht oder nicht. Wenn dies dann nicht der Fall sein sollte, ist es nicht wichtig, warum. Wichtig ist nur Klarheit, dass kein Interesse besteht.
Dabei geht keine Welt unter und das Leben geht einfach weiter. Doch genau das ist aus meinen Beobachtungen nicht der Fall. In den meisten Fällen geht bei einer Ablehnung (einen Korb bekommen) die Welt unter. Dieses Gefühl der Ablehnung will man vermeiden, denn wir haben nicht gelernt, wie wir mit Ablehnung umzugehen haben (Stichwort: Trauma und Entwicklung des Menschens).
Für meine persönliche Reise habe ich verstanden, dass ich keine 100 % Klarheit darüber erhalten werde, wie ich mich labeln darf und soll. Die meisen Labels sind subjektiv. Es gibt kein Regelwerk, in dem die Labels klar definiert werden. Es gibt zwar vereinzelt klare Definitionen, doch diese Definitionen werden von vielen Menschen aus der Community ignoriert und/ oder reframt.
Die Vice-Sendung (Teil 1 und Teil 2) aus 2019 in den USA zeigt aus meiner Sicht wunderbar auf, welches Problem mit Labels einhergeht und wie groß die Verwirrung selbst in der Community ist.
Leider habe ich eine solche Diskussion aus Deutschland, mit solch einer Repräsentation noch nicht gesehen. Gleichzeitig glaube ich kaum, dass solch eine Diskussion in Deutschland überhaupt möglich wäre. Offen eine Meinung zu äußern, welche außerhalb des Meinstreams ist, ist heutzutage in Deutschland nicht gerne gesehen und wird zu teilen zensiert.
Wenn Du dennoch eine Diskussion oder eine ähnliche Diksussion aus Deutschland kennst, welche online verfügbar ist, teile sie gerne in den Kommentaren. Ich würde mich sehr darüber freuen!
Liebe Julia, super spannend, deine Suche. Mir war nicht bewusst, wie viele unterschiedliche Definitionen es allein für den Begriff queer gibt. Faszinierend finde ich deine Herangehensweise. Recherche und Interviews zu führen. Ich finde, du hast sehr eindrücklich beschrieben, warum wir mitunter Labels wollen und brauchen – zur Identifikation und Abgrenzung. Dein Fazit unterschreibe ich: Egal ob mit oder ohne Label, wir sind alle Menschen. Herzliche Grüße Sylvia
Liebe Sylvia,
danke für Deinen Kommentar <3
Liebe Julia, ich finde Schubladendenken oft sehr mühsam und überflüssig, weil ich für mich auch entschieden habe, lieber in der Kategorie Mensch zu denken, eben weil es so viel Subjektivität bei dem Thema Labeln gibt.
Ich kann aber verstehen, dass es Menschen gibt, die für sich eine Einordnung finden möchten. Deine Suche danach bzw. dann deine Zusammenfassung hört sich für mich so an, als wärest du angekommen und das scheint mir das Wichtigste, oder? Eine sehr interessante Reise, auf die du dich da begeben hast!
Liebe Grüße Ulrike
Liebe Ulrike,
Du hast absolut recht, Ankommen ist das wichtigste!
Julia